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Was gibt uns Halt?



In diesem Impulsvortrag beschäftige ich mich mit dem Thema "Halt und Orientierung im Leben" und wie ein solcher Halt gestaltet werden könnte. Angeregt zu diesem Thema wurde ich durch ein trauriges Ereignis bei uns in der Nachbarschaft. Die Frau eines betagten Ehemannes ist recht überraschend verstorben. Das Ehepaar war über 65 Jahre verheiratet und beide sind in dieser Zeit zu einer festen Einheit geworden. Für den Ehemann ist es eine traurige Zeit, diese hatte er sich einfacher vorgestellt. Erst jetzt merkt er, wie wichtig seine Frau in seinem Leben war. Eigentlich ging er davon aus, dass er wegen Vorerkrankungen zuerst gehen würde und nun ging seine Frau voraus.

Wir haben unseren Nachbarn zu einem Nachtessen eingeladen. Bei diesem Treffen lernte ich unseren Nachbarn, seine Werte und Glaubenssätze besser kennen. Wichtig für ihn ist ein demokratisch orientiertes Miteinander in der Gesellschaft. Falls es zu einer Entscheidung gekommen ist, so ist diese zu respektieren, auch wenn sie mir nicht passt. Kennengelernt habe ich auch einen Glaubenssatz von ihm, der sich so beschreiben lässt: "Unsere Gesellschaft wird heute durch eine Koalition politischer Kräfte beherrscht, deren Ziel es ist, allen ihren Willen aufzudrücken und zu bestimmen, was politisch zu geschehen habe. Dies kann so nicht hingenommen werden und wir werden uns dagegen wehren".
Persönlicher Halt und Orientierung
Mir wurde klar, wie wichtig das Thema "Halt und Orientierung" für unseren Nachbarn ist. Er hat sich dazu entscheiden, seinen Halt in einem Glaubenssatz zu finden. Ich umschreibe den Glaubenssatz jetzt mal so: "Wichtig ist für mich, dass wir frei und ohne Einmischung von anderen unsere Entscheidungen unabhängig treffen können".

Das Problematische an diesem Glaubenssatz für mich ist, dass wir nicht unabhängig voneinander leben. Ganz im Gegenteil: alles ist mit allem verbunden, beeinflusst sich gegenseitig und ändert sich in gegenseitiger Abhängigkeit laufend. Dies ist das grundlegende Verständnis im Zen vom Leben in gegenseitiger Abhängigkeit und stetem Wandel.

Ein offenes Zuhören wird aus meiner Sicht durch Glaubenssätze verhindert bzw. blockiert. Identifiziere ich mich persönlich mit diesen Glaubenssätzen, so wird es noch schwieriger. Diese Identifikation fördert, dass ich sie dann auch verteidige. Mein Urteil steht in Sekundenschnelle fest. Oft genügt es, ein bestimmtes Stichwort zu hören, was bei mir eine vorprogrammierte Reaktion auslöst. Damit übersehe ich die extrem hohe Komplexität bei der Meinungsfindung. Es wird sehr stark vereinfacht. Diese Vereinfachung steht für «Schnelles Denken» oder «Musterhaftes Denken». Diese Denkart benötigt wenig Energie, da das Frontalgehirn nicht oder kaum beteiligt ist. Damit wird mein Verhalten «vorprogrammiert» und «festgefahren». Es fehlt mir dabei die Lebendigkeit. Wir werden so zu Robotern.
Geerbtes Grundverhalten der Menschen
In einem Seminar, welches ich vor über 20 Jahren besucht hatte, wurde uns Folgendes mitgegeben. Wir Menschen verfügen über ein geerbtes Grundverhalten. Es ist geerbt, da wir es von unseren Eltern und Lehrern übernommen haben.  Es sieht so aus:
  • Beurteilen und Bewerten
  • Immer gut aussehen wollen
  • Recht haben wollen
  • Dominieren

Das Beurteilen und Bewerten fesselt uns an den Dualismus und das unterscheidende Denken. Dazu gehören jeweils zwei Pole, die diametral gegenüberstehen und zusammengehören. Beispiele: "klein und gross" oder "Liebe und Hass". Wichtig dabei ist es, dass es das Eine nicht ohne das "Andere" geben kann. Etwas ist klein, weil etwas anderes als gross angesehen wird. Dies ist der Charakter des unterscheidenden Denkens. Wichtig ist: "wer einen Pol stärkt, belebt gleichzeitig den anderen Pol. Göthe hat dies im Faust so ausgedrückt: "Ich bin ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft".

Nach seiner Rückkehr aus China hat Dogen Zenji den Satz geprägt: "Augen horizontal - Nase vertikal". Damit ist gemeint: ein Phänomen ist (in seinen Eigenschaften) das, was es ist. Aber auch nicht mehr. Dies kann uns weiterhelfen, etwas so zu akzeptieren, wie es im Moment erscheint. Für unsere Zen-Praxis ist dies eine wichtige Lehre und Übung.

Wenn wir diese Übung fortwährend anwenden, so schwächen wir gleichzeitig unser fortwährendes Beurteilen und Bewerten und wir können uns so von dieser Fessel befreien. Eng verknüpft damit ist unsere Neigung für ewas eine Vorliebe bzw. eine Abneigung zu haben. Es gibt dazu ein schönes Koan im Hekiganroko, Fall 43. Dieses lautet so:

Ein Mönch fragte Tozan: "Wenn Kälte und Hitze kommen, wie kann man ihnen ausweichen?"
Tozan antwortete: "Warum gehst du nicht an den Ort, wo es weder Kälte noch Hitze gibt?".
Der Mönch sagte: "Was ist das für ein Ort, wo es weder Kälte noch Hitze gibt?".
Tozan entgegnete: "Wenn es kalt ist, töte dich mit Kälte! Wenn es heiss ist, töte dich mit Hitze".

Befreiung am Beispiel der Lehren des Hui Neng
Beurteilen und Bewerten fesselt uns an den Dualismus und das unterscheidende Denken. In der Praxis des Zen heisst es, diese Pole zu «vereinen» oder zu «übersteigen». Wir müssen es zu einer Einheit machen. Dies ist dann der Ort, wo es keine Kälte mehr gibt.

Hui Neng gibt uns in seinem Plattform Sutra zwei wertvolle Übungen mit, die zu diesem Thema passen. Hui Neng sagt:

Betrachte alle Menschen, die guten wie die schlechten, ohne zu ergreifen oder abzulehnen
Und ohne eine verunreinigende Anhaftung zu erzeugen.
Wenn du so die Menschen betrachtest, wird dein Geist wie leerer Raum sein.

Ungebunden an «Seins Zuständen», ohne Anhaften an den Sinnesbereichen, bedeutet wie frei fliessendes Wasser zu sein.

Im Geistigen wie «leerer Raum» sein oder wie «frei fliessendes Wasser». Was für Bilder und Aussichten! Wie sieht die Welt aus, wenn mein Geist wie ein «leerer Raum» ist oder wenn ich «wie frei fliessendes Wasser» bin. Ich bin offen für das was gerade entsteht, offen für den Moment. Ich gebe passende Antworten oder stelle gute Fragen. In jedem Moment denke ich je neu.
Und wie setze ich das jetzt um?
Betrachte alle Menschen, die guten wie die schlechten, ohne zu ergreifen oder abzulehnen.
  • Du kannst diese Betrachtung als deine alltägliche Übung etablieren.
  • Beobachte dich dabei, wie du Menschen ansiehst. Was fällt dir auf?
  • Wie sind deine Gedanken, wenn dir ein Mensch auffällt.
  • Fällt dir eine Eigenschaft auf, so sage dir «Eine lange Nase ist lang, eine kurze Nase ist kurz – mehr aber auch nicht".
  • Falls du Schwierigkeiten mit jemanden hast, kannst du «liebevolle Güte» praktizieren. Sprich innerlich dann die folgenden Sätze:

«Mögest du glücklich sein.
Mögest du gesund sein und frei von Leid.
Mögest du frei sein von Hass und Gier.
Mögest du voller Ruhe, Frieden und Gelassenheit sein».

Ungebunden an «Seins Zuständen», ohne Anhaften an den Sinnesbereichen, bedeutet wie frei fliessendes Wasser zu sein.»
  • Mit den Seins Zuständen sind «Hören», «Riechen», «Schmecken», «Gefühle und Emotionen» gemeint.
  • Im Herzsutra heisst es «alle Dinge sind in Wahrheit leer». Neben unseren Gedanken sind auch unsere Gefühle und Emotionen leer. Das heisst, sie verfügen über kein eigenständiges Sein, keinen Kern. Sie tauchen auf und verschwinden wieder. Mehr nicht. Es macht keinen Sinn, sich daran zu klammern und sie festhalten zu wollen.
  • Denke darüber nach, was es heisst, dass deine Gefühle leer sind. Findest du etwas Beständiges.
Fazit
  • Halt und Orientierung suchen scheint ein Grundbedürfnis für uns Menschen zu sein. Wie sehnen uns nach Stabilität, die uns Geborgenheit und Sicherheit gibt.
  • Dies ist gut nachzuvollziehen und verständlich.
  • Jetzt kommt es aber darauf an, wo wir diesen Halt suchen und wie und wo wir uns verankern.
  • Unser Leben ist mehrheitlich eingeengt und gefesselt durch Glaubenssätze, unpassende Lebensweisheiten und falschen Identifikationen. Diese können vererbt sein oder wir haben sie im Laufe unseres Lebens gesammelt und bewahrt.
  • Diese Fesseln machen uns unfrei und erlauben es uns nicht mehr authentisch und spontan jeden Moment frei zu denken und frei zu handeln.
  • Zen macht uns eindringlich darauf aufmerksam, dieses Abhängigkeiten zu erkennen und zu beseitigen.
  • Zen leitet uns an in jeden Moment gegenwärtig zu erleben und mit jedem Moment im Einklang zu stehen.
  • Eine Übung, um in diesen Einklang zu kommen, ist es, mit welchen Augen wir diese Welt betrachten. Welche Bilder mache ich mir von meinen Mitmenschen? Bin ich in der Lage sie vorurteilsfrei anzusehen und sie so anzunehmen, wie sie jetzt daherkommen?
  • Eine weitere Übung ist es, nicht an den Seinszuständen zu haften. Das heisst, frei entscheiden und handeln können - unabhängig von meinen Gefühlen und Emotionen. Ein Weg dazu ist es, diese Gefühle und Emotionen als leer zu erkennen. Sie sind nicht das, was sie oberflächlich zu sein scheinen.
  • Sie sind einfach leer. Gut sie wahrzunehmen und dann auch wieder vergehen lassen. So wie sie gekommen sind - als flüchtige Welle des lebendigen Ozeans.

Finden wir also "Halt" im Haltlosen, indem wir unsere ungeschickten Haltepunkte erkennen, aufgeben und loslassen, um uns neu im Haltlosen wie frei fliessendes Wasser bewegen zu können.

Gerne empfehle ich die Lektüre oder das Studium des Plattform Sutras. In deutscher Sprache gibt es eine Version des Angkor Verlages. Übersetzung von G. Keller/ T. Yamada. Angkor Verlag 2019. ISBN: 978-3-943839-54-8.

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Bilder: pixabay.
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Klaus-Peter Wichmann
Zen-Assistenzlehrer der Glassman-Lassalle Linie
kp-wichmann@parami.ch
www.parami.ch
28. April 2023
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