18 Der Morgenstern ist aufgegangen
Siddharthas Geist, Körper und Atem waren nun dank seiner Achtsamkeit vollkommen eins geworden. Durch die Übung der Achtsamkeit hatte er große Konzentrationskraft entwickeln können, die er nun nutzte, um seine Bewußtheit auf Geist und Körper zu strahlen. Er tauchte tief in die Meditation ein, und allmählich nahm er wahr, daß unzählige andere Wesen in seinem Körper genau in diesem Moment gegenwärtig waren. Organische und anorganische Wesen, Mineralien, Moose, Gräser, Insekten, Tiere und Menschen - alle waren in ihm. Er sah, daß andere Wesen er selbst waren, genau im gegenwärtigen Moment. Er sah seine vergangenen Leben, all seine Geburten und Tode. Er sah die Entstehung und Zerstörung tausender Welten und tausender Sterne. Er fühlte die Freuden und Leiden jedes Lebewesens - von Lebewesen, die von Müttern geboren wurden, von solchen, die aus Eiern schlüpften und solchen, die aus Zellen entstanden, die sich selbst in neue Wesen teilten. Er sah, daß jede Zelle seines Körpers Himmel und Erde umfaßte und sich über die drei Zeiten - Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft - erstreckte. Es war die Stunde der ersten Nachtwache.
Gautama tauchte noch tiefer in die Meditation ein. Er sah, wie zahllose Welten entstanden und vergingen, wie sie geschaffen und zerstört wurden. Er sah, wie zahllose Wesen durch zahllose Geburten und Tode hindurchgingen. Er erkannte, daß diese Geburten und Tode nur äußere Erscheinungen waren und nicht wahre Wirklichkeit, so, wie sich auch unaufhörlich Millionen von Wellen auf der Oberfläche des Meeres bildeten und wieder zusammenfielen, während das Meer selbst jenseits von Geburt und Tod war. Verstanden die Wellen, daß sie selbst Wasser waren, so konnten sie Geburt und Tod transzendieren, wahren inneren Frieden erlangen und alle Angst überwinden. Diese Einsicht ermöglichte Siddhartha, das Netz von Geburt und Tod zu transzendieren, und er lächelte. Sein Lächeln war wie das Erblühen einer Blume in tiefer Nacht - ein Lichtschein erstrahlte. Es war das Lächeln eines wunderbaren Verstehens, die Einsicht in die Vernichtung aller Verunreinigungen. Er erlangte diese Ebene des Verstehens bei der zweiten Nachtwache.
Gerade in diesem Augenblick krachte der Donner, und mächtige Blitze zuckten über den Himmel, als wollten sie ihn in zwei Teile zerreissen. Schwarze Wolken verhüllten den Mond und die Sterne. Regen prasselte herab. Gautama war tropfnaß, doch er bewegte sich nicht von der Stelle. Er setzte seine Meditation fort. Unbeirrt ließ er seine Bewußtheit nun auf seinen Geist strahlen. Er sah, daß die Lebewesen leiden, weil sie nicht verstehen, daß sie mit allen Wesen einen gemeinsamen Grund teilen. Unwissenheit verursacht eine Vielzahl von Leiden, Verwirrungen und Nöten. Gier, Zorn, Überheblichkeit, Zweifel, Eifersucht und Angst - all diese Gefühle haben ihre Wurzeln in der Unwissenheit. Lernen wir, unseren Geist zu beruhigen und die wahre Natur der Dinge eingehend zu betrachten, so können wir ein vollkommenes Verstehen erlangen, das jedes Leiden und jede Angst auflöst und dafür Anerkennung und Liebe ermöglicht.
Gautama erkannte nun, daß Verstehen und-Liebe eins sind. Ohne Verstehen kann es keine Liebe geben. Die Veranlagung der Menschen ist das Ergebnis von körperlichen, emotionalen und sozialen Bedingungen. Verstehen wir das, so können wir einen Menschen nicht hassen, selbst wenn er sich brutal verhält, aber wir können bestrebt sein, mitzuhelfen, seine körperlichen, emotionalen und sozialen Bedingungen zu verändern. Verstehen erzeugt Mitgefühl und Liebe, und beide bewirken richtiges Handeln. Um lieben zu können, ist es vor allem notwendig zu verstehen: daher ist das Verstehen der Schlüssel zur Befreiung. Ein klares Verstehen erlangen wir, wenn wir achtsam leben, einen unmittelbaren Kontakt zum Leben im gegenwärtigen Moment herstellen und wirklich sehen, was in und um uns gerade geschieht. Achtsam zu sein stärkt unsere Fähigkeit, genau hinzuschauen, und schauen wir tief in das Herz aller Dinge hinein, so werden sie sich uns von selbst enthüllen. Das ist der geheime Schatz der Achtsamkeit- sie führt zur Befreiung und Erleuchtung. Das Leben wird erhellt durch Rechtes Verstehen, Rechtes Denken, Rechte Rede, Rechtes Handeln, Rechten Lebenserwerb, Rechtes Bemühen, Rechte Achtsamkeit und Rechte Konzentration. Siddhartha nannte dies den Edlen Pfad: aryamarga.
Siddhartha schaute tief in das Herz eines jeden Wesens hinein und erlangte so eine Einsicht in den Geist eines jeden Wesens, wo immer es sich auch aufhalten mochte. Und er war in der Lage, die Freuden- und die Schmerzensschreie aller Wesen zu hören. Er erreichte Zustände göttlichen Sehens, göttlichen Hörens, und er erlangte die Fähigkeit, über alle Entfernungen hinweg zu reisen, ohne sich zu bewegen. Es war nun das Ende der dritten Wache. Es hatte aufgehört zu donnern, die Wolken verzogen sich und enthüllten den strahlenden Mond und die funkelnden Sterne.
Gautama hatte die Empfindung, als sei ein Gefängnis, das ihn Tausende von Lebzeiten umschlossen hatte, nun aufgebrochen. Unwissenheit war der Wärter dieses Gefängnisses gewesen. Unwissenheit hatte seinen Geist verdunkelt, so, wie die stürmischen Wolken den Mond und die Sterne verbargen. Von endlosen Wogen täuschender Gedanken getrübt, hatte der Geist die Wirklichkeit in Subjekt und Objekt geteilt, in Selbst und Andere, Sein und NichtSein, Geburt und Tod. Und aus diesen Unterscheidungen entstanden die falschen Sichtweisen - die Gefängnisse yon Empfindung, Begierde, Ergreifen und Werden. Das Erleiden von Geburt, Alter, Krankheit und Tod machte die Gefängnismauern nur noch dicker. Es gab nur eins zu tun: den Gefängniswärter zu ergreifen und in sein wahres Gesicht zu schauen. Der Gefängniswärter war die Unwissenheit. Und das Mittel, die Unwissenheit zu überwinden, war der Edle Achtfache Pfad. War der Gefängniswärter erst fort, dann würde auch das Gefängnis verschwinden und niemals wieder aufgebaut werden.
Der Einsiedler Gautama lächelte und flüsterte: »Kerkermeister, jetzt sehe ich dich! Wie viele Leben lang hast du mich im Gefängnis von Leben und Tod eingesperrt! Doch nun sehe ich dein Gesicht ganz deutlich. Von nun an kannst du keine Gefängnismauern mehr · um mich errichten.«
Siddhartha schaute auf und er sah den Morgenstern am Horizont aufgehen; er funkelte wie ein gewaltiger Diamant. So viele Male hatte Siddhartha diesen Stern schon gesehen, wenn er unter dem Pippala-Baum saß, aber an diesem Morgen war ihm, als sehe er ihn zum ersten Mal. Der Stern war so strahlend schön wie das jauchzende Lächeln der Erleuchtung. Lange betrachtete Siddhartha den Stern, und aus tiefstem Mitgefühl heraus rief er aus: »Alle Wesen tragen in sich die Samen der Erleuchtung, und doch ertrinken wir seit so vielen tausend Lebzeiten im Meer von Geburt und Tod.«
Siddhartha wußte, daß er den Großen Weg gefunden hatte. Sein Ziel war erreicht, und sein Herz erlebte nun vollkommenen Frieden und tiefe Ruhe. Er dachte an all die Jahre, in denen er auf der Suche gewesen war; sie waren voller Enttäuschungen und voller Mühsal gewesen. Er dachte. an seinen Vater, seine Mutter, seine Tante, an Yasodhara, Rahula und an alle seine Freundinnen und Freunde. Er dachte an den Palast, an Kapilavatthu, an die Menschen und an das Land, und er dachte an all die, die in Not und Armut lebten, besonders an die Kinder. Er gelobte, einen Weg zu finden, seine Entdeckung mit anderen zu teilen, um ihnen zu helfen, sich vom Leiden zu befreien. Aus seiner tiefen Einsicht erwuchs eine große Liebe zu allen Wesen.
Am grasbedeckten Flußufer blühten bunte Blumen in der frühen Morgensonne. Das Sonnenlicht tanzte auf den Blättern und funkelte auf dem Wasser. Siddharthas Schmerz war verschwunden. Alle Wunder des Lebens offenbarten sich. Alles erschien ungewohnt und neu. Wie wunderbar waren doch der blaue Himmel und die dahinziehenden weißen Wolken! Er hatte das Gefühl, als seien er und das Universum gerade neu erschaffen worden.
Da erschien Svasti. Als Siddhartha den jungen Büffelhirten auf sich zulaufen sah, lächelte er. Plötzlich blieb Svasti wie angewurzelt stehen und starrte Siddhartha mit weit geöffnetem Mund an. Siddhartha rief ihn an: »Svasti!«
Der Junge kam wieder zur Besinnung und antwortete:» Verehrter Lehrer!« Er legte seine Handflächen zusammen und verbeugte sich. Ein paar Schritte machte er vorwärts, dann blieb er erneut stehen und starrte Siddhartha ehrfürchtig an. Sein Verhalten machte ihn verlegen, und er sagte zögernd: »Verehrter Lehrer, du siehst heute so anders aus.«
Siddhartha winkte den Jungen näher zu sich. Er nahm ihn in den Arm und fragte: »Was ist an mir heute anders?«
Svasti sah zu ihm auf und antwortete: »Es ist schwer zu sagen. Du siehst einfach anders aus. Es ist so ... so als wärest du ein Stern.«
Siddhartha strich dem Jungen über den Kopf und sagte: »So ist das also. Wem sehe ich denn noch ähnlich?«
»Du siehst aus wie ein Lotus, der gerade erblüht. Und wie ... ja, wie der Mond über dem Gayasisa-Gipfel.«
Siddhartha sah Svasti in die Augen und sagte: »Nanu, du bist ja ein Dichter, Svasti! Nun erzähl mir, wieso bist du heute so früh hier? Wo sind deine Büffel?«
Svasti erklärte ihm, daß er einen freien Tag habe, da alle Büffel beim Pflügen der Felder gebraucht würden. Nur das Kalb sei im Stall geblieben. In dieser Nacht waren er und seine Geschwister vom Grollen des Donners erwacht. Der Regen drang durch das undichte Dach und durchtränkte ihre Betten. Noch nie hatten sie einen so heftigen Sturm erlebt, und sie sorgten sich um Siddhartha dort draußen im Wald. Die Kinder schmiegten sich eng aneinander, bis der Sturm allmählich nachließ, und sie wieder einschlafen konnten. Als der Tag heranbrach, lief Svasti zum Stall, nahm seine Sichel und den Korb und machte sich auf den Weg in den Wald, um nachzusehen, ob bei Siddhartha alles in Ordnung sei.
Siddhartha ergriff Svastis Hände. »Das ist der glücklichste Tag, den ich jemals erlebt habe! Bring, wenn du kannst, heute nachmittag alle Kinder her, wir wollen uns am Pippala-Baum treffen. Vergiß nicht, auch deine Schwestern und deinen Bruder mitzubringen. Doch geh jetzt und schneide erst das Kusagras, das du für die Büffel brauchst.«
Glücklich zog Svasti von dannen, während Siddhartha mit langsamen Schritten am sonnenüberfluteten Ufer entlangschritt.
Auszug aus "Wie Siddharta zum Buddha wurde" - Thich Naht Hanh - dtv Verlag