Je neu – ohne Schablone
Freiheit von Wissen, Glauben und Ehrgeiz
Wir greifen zu Wissen, Glauben und Ehrgeiz wie zu Rettungsringen. Sie geben Sicherheit – aber oft nur innerhalb einer Schablone. Zen lädt uns zu etwas Kühnerem ein: mit einem stillen und offenen Geist zu hören, zu sehen, zu handeln. Nicht naiv, sondern hellwach. Heute üben wir, das Sicherheitsprojekt zu durchschauen und für einen Moment nichts festzuhalten. Dann antwortet etwas, das klüger ist als jede Idee.

Foto: pixabay
I. Warum wir in Schablonen fallen?
Herzlich willkommen zu diesem Zazenkai im Max, heute im Spätherbst. Für das Teishō habe ich eine Betrachtung mit dem Titel „Je neu – ohne Schablone“ gewählt; der Untertitel lautet „Freiheit von Wissen, Glauben und Ehrgeiz“.
Im Zen sprechen wir von den drei Giften Gier, Hass und Verblendung und üben, uns davon zu befreien. In den fünf Betrachtungen zum Essen rezitieren wir: „Mögen wir frei sein von Gier, Hass und Verblendung.“
Daneben gibt es weitere „Gifte“ – Muster unseres Reagierens. Manche sind so subtil, dass ihre „Wirkstoffe“ kaum auffallen. Ein Grund dafür ist unsere gesellschaftliche Konditionierung: Jede Gemeinschaft bildet Werte und Schablonen aus, durch die sie sich als Gemeinschaft erkennt. Beispiele sind Religionsgemeinschaften (etwa Christentum oder Hinduismus), nationale Kulturen (Schweizer:innen, Italiener:innen, Deutsche) – und auch eine Sangha ist eine solche Gemeinschaft.
Heute geht es um unsere Affinität zu Glauben, zur Macht des Wissens und zum Ehrgeiz.
Heute geht es um unsere Affinität zu Glauben, zur Macht des Wissens und zum Ehrgeiz.
Ein persönlicher Hintergrund
Ich wuchs in einer katholischen Familie in der niedersächsischen Diaspora auf; die meisten Mitschüler waren evangelisch – und ein wenig neidisch auf die zusätzlichen katholischen Feiertage. Meine Eltern ermutigten mich, Abitur zu machen und zu studieren. Nach dem Abschluss als Maschinenbauer suchte ich meinen Weg im Berufsalltag. Ob ich besonders talentiert war, weiß ich nicht; andere taten sich sicher leichter. Aber ich hatte Ehrgeiz und probierte vieles aus, das mich weiterbringen könnte.
Beispiel: Akribische Vorbereitung
Als schüchterner, introvertierter junger Mensch waren Meetings für mich mit Unsicherheit und Angst verbunden. Ich reagierte mit akribischer Vorbereitung: mich schlau machen, Wissen anhäufen, vorwegzudenken. Angst und Unsicherheit waren die Treiber. Ich wollte nicht enttäuschen, anerkannt sein, Karriere machen. Das lässt sich in einer Kernaussage bündeln:
"Sicherheit durch Wiederholung - aber der Preis ist Leblosigkeit!"
Beispiel: Neurolinguistisches Programmieren (NLP)
Später stieß ich auf NLP – entwickelt in den 1970er-Jahren von Richard Bandler und John Grinder in Kalifornien. Seine Blütezeit erlebte NLP in den 1980er- und 1990er-Jahren; es fand Anwendung in Sport, Coaching, Therapie und im Geschäftsleben. Später zeigte sich: Für zentrale Wirkbehauptungen gibt es kaum belastbare wissenschaftliche Belege.
Ich war dennoch fasziniert von Methoden wie Vision/Zielen und einem Werkzeugkasten zur Umsetzung – teils mit psychologischen Tricks. Zielarbeit ist in unserer Gesellschaft tief verankert. Wenn ein Haus saniert oder gebaut werden soll, ist zielorientiertes Vorgehen unerlässlich, damit die vielen Beteiligten gut zusammenarbeiten.
Die Frage, die ich mir heute stelle, lautet: Brauche ich einen solchen Werkzeugkasten auch im psychischen Bereich?
Meine Antwort: nein. Ebenso wie die akribische Vorbereitung ist er eine Begrenzung – und führt zu Leblosigkeit.
„Weiterkommen durch Kopieren – auch das kostet Lebendigkeit.“
Beispiel: Ehrgeiz
Das Wort setzt sich aus „Ehre“ und „Geiz“ zusammen – wörtlich also: Geiz nach Ehre, ein übersteigertes Verlangen nach Ansehen oder Ruhm. Historisch war die Konnotation überwiegend negativ; heute schwankt sie zwischen zielstrebig/ambitioniert und rücksichtslos/übersteigert. Persönlich war ich im Beruf ehrgeizig – oder, milder formuliert, ambitioniert.
Ehrgeiz kann Projekte vorantreiben; doch wenn er sich an Selbstbilder bindet, füttert er das Werden-Wollen.
II. Und was macht frei?
"Alles woran wir uns psychisch festhalten - Wissen, Glauben, Ehrgeiz - ist ein Sicherheitsprojekt;
Anfängergeist löst dieses Projekt auf und lässt Weisheit handeln - je neu, ohne Schablone."
Die Beispiele zeigen: Akribie und Vorwegdenken bewirken etwas – zum Preis eines konditionierten, repetitiven Musters. Das Alte wiederholt sich; wir leben wie programmiert.
Zur Klärung blicken wir auf den gemeinsamen Boden des Zen – drei Grundmerkmale:
- Alle bedingten Dinge sind vergänglich - nichts bleibt, alles wandelt sich (anicca)
- Alles befindet sich in wechselseitiger Abhängigkeit (pratityasamutpada)
- Nicht-Selbst: Es gibt kein unveränderliches, aus sich heraus bestehendes Selbst. Keine Erscheinung hat oder ist Substanz an sich (anatta)
Diese Einsichten kulminieren in der Aussage des Herz-Sutra: „Form ist Leere, Leere ist Form.“
Wirklichkeit ereignet sich als Wechselbeziehung – komplex und in jedem Augenblick neu.
Wirklichkeit ereignet sich als Wechselbeziehung – komplex und in jedem Augenblick neu.
Der Lebensstrom stellt uns daher fortwährend vor neue Situationen. Jede neue Situation ruft nach einer frischen, passenden Antwort. Handeln auf Basis von Konzepten, Modellen und Zielen kann hilfreich sein, bleibt aber 2. Wahl – es kopiert Vergangenes.
Mit Sicherheitsprojekten versuchen wir, diese Grundmerkmale zu überlisten. Das misslingt – und erzeugt das bekannte Pendeln von Freude und Leid: himmelhoch jauchzend – zu Tode betrübt. Eine Welle trägt uns hoch, die nächste zieht uns hinab. Wie kommen wir heraus? Wie vergegenwärtigen wir bedingungslose Liebe?
III. Wie je neu handeln?
Wie handeln wir angemessen, passend und je neu – ohne auf Vorgefertigtes (Ideen, Konzepte) zurückzugreifen?
Zunächst die notwendige Unterscheidung:
Im Bereich der Technik (Bauen, Organisieren, Heilen etc.) sind Wissen und zielorientiertes Vorgehen unverzichtbar. Ambition und bewährte Verfahren sind hier sinnvoll.
Im psychologischen Bereich – Erleben, Wahrnehmen, Vorlieben und Abneigungen – stellt sich eine andere Frage: Wie je neu handeln? Darauf konzentrieren wir uns hier.
Im Bereich der Technik (Bauen, Organisieren, Heilen etc.) sind Wissen und zielorientiertes Vorgehen unverzichtbar. Ambition und bewährte Verfahren sind hier sinnvoll.
Im psychologischen Bereich – Erleben, Wahrnehmen, Vorlieben und Abneigungen – stellt sich eine andere Frage: Wie je neu handeln? Darauf konzentrieren wir uns hier.
Ich greife dazu auf das Platform Sutra des Huineng (6. Patriarch des Chan/Zen in China) zurück. Die Figur Huinengs ist teils legendär; das Werk wird ihm zugeschrieben und hat im Chan eine besondere Stellung.
Platform Sutra, Kap. V (Angkor Verlag)
"Was also ist Sitzmeditation (zuochan)? In dieser Lehre gibt es kein Hindernis.Wenn alles Anhaften an äußere Dinge, alles Aktivieren von Gedanken an Gut und Böse abgeworfen wird, dann heißt dies ,sitzen' (zuo).Innerlich die Bewegungslosigkeit der Selbst-Natur zu erkennen, also inneren Frieden zu finden, heißt ,Meditation' (chan)." ..."Konzentriert sich jemand auf äußerliche Merkmale, ist sein Geist im Innern gestört.Transzendiert er diese äußeren Merkmale, ist sein Geist nicht mehr gestört." ...
"Doch wenn man die Sinnesbereiche wahrnimmt und gedanklich bewertet, wird man beunruhigt.Kann man aber die zahllosen Sinnesbereiche wahrnehmen, ohne dass der Geist gestört wird, dann ist dies wahre Konzentration."
Was heißt „transzendieren“ hier?
- vollständig wahrnehmen,
- ohne sich innerlich zu verflechten,
- weder abgewandt noch absorbiert,
- wach, frei, gegenwärtig.
Kurz: sehen – lassen – nicht kleben.
Damit ist Zazen nicht auf das Kissen beschränkt. Zazen ist immer: beim Gehen, Stehen, Liegen, Essen, Lesen. Huineng relativiert die Form des Sitzens zugunsten einer Haltung, die alle Lebensbereiche durchdringt.
Wie mündet das ins Handeln?
Wenn Verstrickungen sich lösen – wenn die „äußeren Merkmale“ transzendiert sind –, wird der Geist still und weit.
Weit: weil nichts mehr überfüllt und ablenkt.
Frei: weil nichts mehr bindend haftet. Konzepte bleiben bewusst vorhanden, sind jedoch nicht mehr vordergründig.
Wenn Verstrickungen sich lösen – wenn die „äußeren Merkmale“ transzendiert sind –, wird der Geist still und weit.
Weit: weil nichts mehr überfüllt und ablenkt.
Frei: weil nichts mehr bindend haftet. Konzepte bleiben bewusst vorhanden, sind jedoch nicht mehr vordergründig.
In dieser Weite wirkt Weisheit (prajna). Sie handelt von selbst: mühelos, angemessen, je neu.
Abschließend hier noch eine kleine und alltags-tauglichen Übung, die uns mit diesem Thema vertraut machen kann:
- Anhalten (3 Atemzüge): "Was ist hier?"
- Körper verankern (Fußsohlen, Hände, Gesicht).
- Sehen ohne Urteil: Reiz - Gefühl und Impuls bemerken. Nichts festhalten.
- Kurz antworten: das Nächste Angemessene tun. Klein, klar, ohne Verstrickung.
Klaus-Peter Wichmann (Seisen) - Zen-Lehrer der GLZL - im November 2025 - www.parami.ch - kp-wichmann@parami.ch