Kälte und Hitze
Für den Zazentag im Lassalle-Haus vom 02.11.24 habe ich einen Vortrag mit dem Titel "Kälte und Hitze" ausgewählt. Grundlage dafür ist der 23. Fall aus dem Hekiganroku: Tozans "Kälte und Hitze". Dieses Koan leiht sich ein Ding aus der Erscheinungswelt, in diesem Fall unsere Leiden oder Vorlieben und Abneigungen, und fragt dann wie wir diesem Leiden entrinnen können und so es fragt nach dem Wesentlichen.
Tozans "Kälte und Hitze"
Ein Mönch fragte Tozan: "Wenn Kälte und Hitze kommen, wie kann man ihnen ausweichen?"
Tozan antwortete: "Warum gehst du nicht an einen Ort, wo es weder Kälte noch Hitze gibt?"
Der Mönch sagte: "Was ist das für ein Ort, wo es weder Kälte noch Hitze gibt?"
Tozan antwortete: "Wenn es kalt ist, töte dich mit der Kälte! Wenn es heiss ist, töte dich mit der Hitze!"
Der ehrwürdige Tozan lebte und wirkte im 9. Jahrhundert und war der 38. Patriarch bzw. der 10. Patriarch nach Bodhidharma in unserer Linie. Sein chinesischer Name lautet "Dongshan Liangjie". Tozan Ryokai gilt als Begründer der Soto-Schule zusammen mit Sozan. Der Name Soto setzt sich aus den Anfangssilben von Sozan und Tozan zusammen. Dogen der im 13. Jahrhundert Zen von China nach Japan gebracht hatte, gilt als Begründer des japanischen Soto-Zen. Wie ihr vielleicht wisst, beruht die Zen-Praxis der Glassman-Lassalle-Linie auf den beiden grossen Traditionen der Soto- und der Rinzai-Linie. Somit habe wir einen direkten Bezug zum Meister Tozan. Wie schön!
Wie kann ich ihnen ausweichen?
"Wenn Kälte und Hitze kommen, wie kann ich ihnen ausweichen?". Diese Frage des Mönchs im Koan kennen wir sicher alle. Und es ist keine neue Frage, denn der Fall ereignete sich ja vor ca. 1200 Jahren. Seit alten Zeiten wünschen sich Menschen einen Zustand, der ihre Vorlieben bedient und frei ist von ihren Abneigungen. Vorlieben und Abneigungen haben einen individuellen Charakter und auch einen kollektiv kulturellen. Kollektiv heisst, diese Vorlieben teilen wir uns mit der Mehrheit unserer Mitmenschen. Individuell heisst, das ist MEINE persönliche Vorliebe und zeichnet mich aus. Damit betont und stärkt die individuelle Vorliebe meine egoistischen Kräfte und Wirkungen (Wirkungen im Sinne von Karma).
Wie ihr wisst, sind unsere Vorlieben und Abneigungen die Gründe für unser Leiden. Buddha hat dies in den "Vier Edlen Wahrheiten" ausgedrückt und damit auch den Weg aufgezeichnet, wie man dem Leiden entgehen kann. Es ist der edle achtfache Pfad. Dieser Pfad ist ein Schulungsweg, der uns unsere Vorlieben und Abneigungen bewusster macht und uns eine Möglichkeit gibt, uns unabhängig von diesen Anhaftungen zu machen.
Kommen wir zurück zu den Vorlieben. Dazu ein Gedicht von Kurt Tucholsky, welches ich auf Schweizer Örtlichkeiten angepasst habe:
Ja, das möchtest du:
Eine Villa im Grünen mit grosser Terrasse,
vorn den Vierwaldstätter See, hinten die Bahnhofstrasse in Zürich;
mit schöner Aussicht, ländlich-mondän,
vom Badezimmer ist das Matterhorn zu sehen -
aber am Abend zum Kino hast du es nicht weit ...
Ich erkenne mich nur zu gut in diesem Gedicht. Meine Frau und ich hatten uns vorgenommen unser Badezimmer zu renovieren und mit unseren Wünschen wurde es planerisch eine komplette Renovation. Wir staunten nicht schlecht, als wir den Betrag auf der Offerte sahen. Wir hatten so viele Wünsche geäussert, der Preis lag deutlich über unserem Budget. Geht es auch etwas einfacher? Ja: nach einem Jahr kamen wir auf eine einfache Lösung.
Einen zweiten persönlichen Bezug habe ich mit meinem Hobby, dem Bergsteigen. Beim Bergsteigen gibt es für mich drei wesentliche Phasen. Am Anfang ist man guter Dinge, freut sich, wieder mal in der Natur mit Freunden unterwegs sein zu dürfen und unterhält sich angeregt. In der zweiten Phase wird es anstrengend und die Gespräche verstummen. Hier stelle ich mir auch hin und wieder die Frage, warum machst du dies eigentlich? Ein schöner Tag unten im Tal wäre doch angenehmer. Aber dann kommt ein Wechsel und die Beschwerden lösen sich auf. Ich bin eins mit dem Steigen, dem Berg und dem Firn. Jeder Schritt erfolgt in Ruhe und in einem harmonischen Rhythmus mit meinem Atem. Hierin liegt bereits der Kern der Lösung. Aber schauen wir uns dies nach und nach an.
Die Versuchung
Tozan antwortet: "Warum gehst du nicht an einen Ort, wo es weder Kälte noch Hitze gibt?"
Meister Tozan gaukelt dem Mönch eine einfache Lösung vor, einen Ort, an dem es keine Kälte und keine Hitze mehr gibt. Wie schön: ich muss meine Abneigungen nicht aufgeben und muss mich nur zu meinem "Wünsch dir was Land" aufmachen. Es ist mehr als auffällig, dass es diesen Ort nicht geben kann. Wie denn auch. Ich nehme ja all meine Probleme, Vorlieben und Abneigungen mit mir mit. Und die werden dann schon ihre Wirkungen am neuen Ort entfalten.
Fiktives Beispiel Urlaub: In der Karibik, dem schönsten Ort der Welt mit Wellen, Naturstrand, viel Sonne und exotischen Köstlichkeiten. Nur Schade, dass uns das Badezimmer nicht gefällt und als wir reklamieren, benimmt sich das Personal unverschämt. Wir nehmen sofort Kontakt mit der Versicherung auf. Doch nicht mit uns!!!
Beispiel Meditation: so wie es die Werbung anpreist und wie es sich die Mehrheit wohl auch vorstellt. Eine wunderschöne Frau mit Traumfigur sitzt im Schneidersitz (geht gar nicht) am sonnigen Strand auf einem Badetuch mir anmutig geformter Handhaltung. Auch hier spiegelt sich der Wunsch nach einer Traumwelt wider.
Die Antwort
Tozan sagt: "Wenn es kalt ist, töte dich mit der Kälte". Im buddhistischen Sprachgebrauch ist mit "töten" nicht das Töten, sondern ein Überwinden, ein Ablassen oder ein Loslassen gemeint. Es wird drastisch formuliert. Überwinde also deine Vorstellungen und Wünsche vom momentanen Zustand. Das Leben ist immer so, wie es sich gerade zeigt. Und der Schlüssel ist, das Momentane zu akzeptieren. Erstmal in diesem Moment und auch im nächsten.
Etwas zur Motivation: Eine buddhistische Erkenntnis ist, dass sich alles ständig in Veränderung befindet. Nichts bleibt so, wie es ist. Heute habe ich Zahnschmerzen, morgen nach dem Besuch beim Arzt sind sie weg. Heute bin ich traurig, morgen bin ich fröhlich. Traurigkeit und Fröhlichkeit haben keinen Bestand, sie sind flüchtig. In der gesamten Erscheinungswelt gibt es nichts Beständiges, nichts bleibt so, wie es gerade ist.
Ok, in der Akzeptanz, dessen was ist, liegt also die Lösung. Mir fällt es jedoch schwer, dies zu akzeptieren. Die Gedanken kreisen ständig darum und lassen mich nicht los.
Nehmen wir als Beispiel den Tennisspieler, der gerade einen Ball ins Aus geschlagen hat und der Meinung ist, dass der Ball ja noch die Linie berührt hätte und der Schiedsrichter eine Null ist. Gelingt es ihm nicht, das Aus zu akzeptieren, wird er beim nächsten Ballwechsel abgelenkt sein und den nächsten Fehler machen. Und so weiter. Er verliert das Spiel. Wie Schade. Spitzensportler trainieren dies übrigens mit mentalen Übungen. Sie wissen wie wichtig die mentale Stabilität ist.
Als Zen-Praktizierende haben wir gute Voraussetzungen, dieses "Aus" zu akzeptieren. Im Zazen lernen wir wieder und wieder unsere Gedanken zu beruhigen und ihnen nicht die affektive Kontrolle über unsere Handlungen zu überlassen. Diese Ruhe sollte sich auf unseren Alltag übertragen lassen, insbesondere dann, wenn wir alle täglichen Verrichtungen in Achtsamkeit und konzentriert, also ungeteilt, ausführen können. Ganz und gar bei der Sache sein!
Sabine Hübner fragt in einem Kommentar zu einem anderen Koan: "... und wie kommen wir zu diesem ausgezeichneten Zustand?"Wer sich immer wieder übt, das zu erleben, was er erlebt, und wachsam mitzubekommen, was ihm eben gerade begegnet, der entdeckt, dass alle Dinge aus ihrem Urwesen heraus leuchten. Ja, dass alles, was immer es auch sei, voller Schönheit ist. Nehmt, was kommt. Lasst gehen, was geht. Akzeptiert! Seid einverstanden!
- durch Annehmen
- durch Akzeptieren
- durch Einverstanden sein.
Und Tozan sagt: In der Mitte des Leides zwischen Kälte und Hitze gibt es Linderung! Im Eins-Werden mit dem Leiden und der Ruhe und dem Frieden innerhalb des Leidens liegt die Lösung. Zazen kann uns helfen, diesen Zustand zu verwirklichen.
Ich wünsche euch diese Ruhe und den Frieden - nicht nur in den schönen Zeiten, sondern auch dann wenn es gerade mal nicht so gut läuft!
Klaus-Peter Wichmann (Hoshi)
01. November 2024
kp-wichmann@parami.ch
parami.ch