Rohatsu - 08. Dezember
Für den Zazentag am 30.11.2024 im Lassalle-Haus wurde dieser Vortrag mit dem Thema "Rohatsu" geschrieben. "Ro" heisst Dezember und "hatsu" bedeutet der Achte. Es ist Tradition, dass am 01. Dezember weltweit besondere Sesshins mit einer Dauer von 8 Tagen stattfinden. In der Nacht vom 07. auf den 08. Dezember erfuhr der Buddha die Erleuchtung gegen 4 Uhr morgens, in dem Moment als der den Morgenstern erblickte. In Gedenken daran führen die Teilnehmer:innen die Meditation die ganze Nacht bis morgens um 4:00 fort.
Keine Person - kein Selbst
Eine Schlüsselfrage zu diesem Vortrag lautet: "Was hat Buddha Shakyamuni in dieser besonderen Nacht erfahren? Oder mit anderen Worten: was ist das Wesentliche im Zen? Worauf kommt es wirklich an? Eine Antwort dazu finden wir im Diamantsutra. In diesem Sutra belehrt der Buddha seinen Schüler Subhuti über genau dieses Wesentliche. Subhuti fragt den Buddha, wie sich jemand verhalten soll, der nach dem vollkommen erwachten Geist strebt.
"Wenn, Subhuti, ein Bodhisattva an der Vorstellung festhält, dass ein Selbst, eine Person, ein Lebewesen oder eine Lebensspanne existiere, dann ist er kein echter Bodhisattva".
In unserer alltäglichen Erfahrung gibt es Personen. Personen und Lebewesen verfügen über eine Lebensspanne. Unsere normale Wahrnehmung sagt uns, dass die Lebenspanne mit der Geburt beginnt und mit dem Tod endet. Und wir nehmen uns als eine eigenständige Person wahr, die einen Namen hat und etwas über ihre Lebensgeschichte erzählen kann. Ich kann erzählen, dass ich Maschinenbau studiert habe, als Projektleiter in der Softwarebranche gearbeitet hatte und dass ich verheiratet bin und gerne in die Berge gehe. All diese Dinge, wie Name und Geschichte, meine Vorlieben, Abneigungen und Vorurteile kürzt man mit dem Begriff "meine Identität" ab. Unsere Identität ist uns sehr vertraut, es ist eine Art Heimat und es ist schwer vorstellbar auf sie zu verzichten. Und genau diesen Verzicht spricht der Buddha im Diamantsutra an.
Und der sechste Patriarch, Hui Neng, erfuhr eine erste tiefe Erfahrung als er einen Mönch das Diamantsutra rezitieren hörte. Die entscheidende Stelle befindet sich im 10. Kapitel und lautet:
"In diesem Geiste sollen alle Bodhisattva-Mahasattvas ihren reinen, klaren Vorsatz fassen. Wenn sie diesen Vorsatz fassen, sollen sie sich dabei nicht auf Form, Klang, Geruch, Geschmack , berührbares und Geistesobjekt stützen. Sie sollen einen Vorsatz fassen aus einem Geist heraus, der nirgendwo verweilt."
Der Buddha spricht von Vorstellung. Eine Vorstellung ist etwas was sich im Gehirn oder Bewusstsein abspielt. Es sind Gedankenkonstrukte. Der Buddha meint damit wohl, dass wir diese Vorstellung von einer Person selber konstruieren und dass sie nicht gleich der Wahrnehmung der Wirklichkeit ist. Ein echter Bodhisattva lässt diese Vorstellung los, sie hat keinen Einfluss mehr auf seine Wahrnehmung.
Im zweiten Zitat benutzt der Buddha das Wort Vorsatz. Ein Vorsatz ist eine persönliche und feste Entscheidung, sich so oder so zu verhalten. Der Buddha rät uns dann einen solchen Vorsatz aus einem Geist heraus zu fassen, der nirgendwo verweilt. Das heisst, dieser Geist ist frei von unseren sinnlichen Wahrnehmungen und frei von unseren Konzepten oder Lebensanschauungen.
Was für eine Herausforderung! Diese Worte sind einfach zu hören, sie sind schnell auf Papier geschrieben oder wie in diesem Vortrag einfach ausgesprochen. Aber was bedeutet dies, wenn ich mich ernsthaft auf diese Herausforderung einlasse? Wie kann ich denn die Vorstellung von einer Person loswerden? Wie komme ich zu einem Geist, der nirgendwo verweilt. Diese Fragen kommen mir beim Nachdenken in den Sinn. Und wenn ich diese Fragen genau betrachte, dann basieren sie auf einem Ziel, auf etwas was es zu erreichen gilt. Und hier ist die Krux im Spiel. Es wird noch schwieriger, wenn wir dies mit Methoden oder einer Zielvereinbarung erreichen wollen. Der Schlüssel liegt darin, dass dies nicht machbar ist. Es ereignet sich von Selbst oder auch nicht. Wir können es nicht aktiv machen. Aber wir können Zazen üben. Und diese Übung ist nach den alten Meistern eine gute Voraussetzung, dass sich dieses realisieren kann.
Diesen Exkurs schliesse ich mit einem Zitat von Dieter Wartenweiler zum Thema "Hauslos daheim" ab. Im Buch "Buddhas Spuren im Sand, Seite 111" schreibt Dieter Wartenweiler:
Wir fühlen uns nicht nur in den eigenen Räumen daheim, sondern noch vielmehr in unserer Identität. Wohnungen und Häuser kann man beziehen und von dort wieder ausziehen. ... Kaum jemand verlässt eine Wohnstätte ohne Ersatz freiwillig, und ähnlich verhält es sich auch mit der Identität. Im Laufe des Lebens können sich Identitäten ändern - wir selbst sind ja keine stabile Größe, sondern stetem Wandel unterworfen - aber es verzichtet kaum jemand freiwillig auf seine Identität. Und dennoch kann es geschehen, dass die eigene Identität zerfällt, in einem langsamen Prozess oder plötzlich.
Wenden wir uns jetzt dem eigentlichen Thema des Vortrages zu: dem Erleuchtungs-Erlebnis des Buddha.
Buddha Shakyamuni
Zunächst einige Daten rund um Buddhas Herkunft und sein Elternhaus:
Hinter dem historischen Buddha verbirgt sich der indische Religionsstifter Siddhartha Gautama . Ein anderer Name lautet "Shakyamuni ", das heisst „der Weise aus dem Shakya-Geschlecht“. Allgemein wird angenommen, dass Siddhartha Gautama von 563 v.Chr. bis 483 v.Chr. in Indien lebte und sein Leben seiner Lehre widmete. Damit wurde er 80 Jahre alt. Überlieferungen zufolge ist Lumbini in Nepal der Geburtsort Siddhartha Gautamas. Heute ist der Ort ein Pilgerzentrum und seit 1997 UNESCO Weltkulturerbe.
Shuddhodana war der leibliche Vater von Siddhartha Gautama, dem historischen Buddha. Er stammte aus dem Volk der Shakya und soll den alten indischen Staat Kapilavastu im nördlichen Indien, heute in Nepal, regiert haben. Nach dem Tod seiner Gemahlin Maya sieben Tage nach der Geburt des Prinzen heiratete er ihre Schwester Mahapajapati Gotami, die zur Pflegemutter Siddharthas wurde. Shuddhodana war also ein König und damit verbunden auch ein Krieger. Sein Ziel war es, dass sein Sohn Siddharta als sein Nachfolger die Welt als Krieger unterwerfen sollte. Weissagungen zufolge wurde dem König mitgeteilt, dass sein Sohn zwar ein Weltherrscher werden würde, jedoch anders als der König es sich vorstellte. Shuddodhana liess daraufhin seinen Sohn überaus behütet aufwachsen, von ihm wurde jede Not und jedes Leid ferngehalten. Alles Schöne und Gute war im Überfluss im Königshaus vorhanden. Kranke Bedienstete des Königs wurden aus dem Palast verbannt und lebten danach in elendigen Behausungen vor den Palastmauern.
Siddharta gelang es eines Tages in jungen Jahren den Palast zu verlassen und er wurde auf seinen Ausflügen mit der Not, dem Leiden und dem Tod der Menschen konfrontiert. Diese Konfrontation hat wohl dazu geführt, dass er sich fragte, wie dieses Leiden beendet werden könnte. Er fasst den Entschluss, sein Elternhaus zu verlassen und bat seinen Vater um seine Zustimmung. Siddharta ging nicht einfach fort, sondern suchte eine Einigung mit seinem Vater zu finden. Er tat dies mit Geduld und Beharrlichkeit. Und war damit erfolgreich.
Das Thema des geduldigen Verfolgens seiner Ziele beschreibt Hermann Hesse sehr schön in der Dichtung "Siddharta" im Kapitel "Unter Kindermenschen". Wahrscheinlich ist die Zeit für diesen Vortrag zu kurz, dass ich dieses schöne Kapitel vorlesen kann. Daher findet ihr es im Anhang. An dieser Stelle ein jedoch ein Zitat daraus. Siddharta sagte Folgendes zu Kamala (seiner Angebeteten in der Dichtung):
Nichts wird von Dämonen bewirkt. Jeder kann zaubern, jeder kann seine Ziele erreiche, wenn er denken kann, wenn er warten kann, wenn er fasten kann."
Zurück zum historischen Buddha. Siddharta ist es mit Geduld gelungen, dass sein Vater zustimmte. Siddharta durfte den Hof verlassen. Auf seinen Wanderungen suchte er die Nähe zu spirituellen Lehrern. Diese Lehrer erkannten wohl die Begabung des Buddha und boten ihm an, seine Schule zu führen. Der Buddha jedoch war nicht zufrieden mit den spirituellen Lehren und zog weiter. In einer Phase probierte es mit der Askese aus und zwar so konsequent, dass sein Leben in Gefahr geriet. Daraus zog er den Schluss, dass Askese nicht der Weg sein kann und begann wieder zu essen und sich um seine Gesundheit zu sorgen.
Schauen wir uns nun sein Erleuchtungserlebnis an. Siddharta setzte sich unter den Pippala Baum im Wald und sagte sich, dass er erst wieder aufstehen würde, wenn er ES erfahren habe.
Zitate aus "Wie Siddharta zum Buddha wurde"
Hören wir uns dazu einige Textstellen aus dem Buch "Wie Siddharta zum Buddha wurde - Seite 118" von Thich Naht Hanh an:
Siddharthas Geist, Körper und Atem waren nun dank seiner Achtsamkeit vollkommen eins geworden. Durch die Übung der Achtsamkeit hatte er große Konzentrationskraft entwickeln können, die er nun nutzte, um seine Bewußtheit auf Geist und Körper zu strahlen. Er tauchte tief in die Meditation ein, und allmählich nahm er wahr, daß unzählige andere Wesen in seinem Körper genau in diesem Moment gegenwärtig waren. Organische und anorganische Wesen, Mineralien, Moose, Gräser, Insekten, Tiere und Menschen - alle waren in ihm. ... Er fühlte die Freuden und Leiden jedes Lebewesens - von Lebewesen, die von Müttern geboren wurden, von solchen, die aus Eiern schlüpften und solchen, die aus Zellen entstanden, die sich selbst in neue Wesen teilten. ... Es war die Stunde der ersten Nachtwache.
Gautama tauchte noch tiefer in die Meditation ein. Er sah, wie zahllose Welten entstanden und vergingen, wie sie geschaffen und zerstört wurden. Er sah, wie zahllose Wesen durch zahllose Geburten und Tode hindurchgingen. Er erkannte, daß diese Geburten und Tode nur äußere Erscheinungen waren und nicht wahre Wirklichkeit, so, wie sich auch unaufhörlich Millionen von Wellen auf der Oberfläche des Meeres bildeten und wieder zusammenfielen, während das Meer selbst jenseits von Geburt und Tod war. ... Er erlangte diese Ebene des Verstehens bei der zweiten Nachtwache.
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Er setzte seine Meditation fort. Unbeirrt ließ er seine Bewußtheit nun auf seinen Geist strahlen. Er sah, daß die Lebewesen leiden, weil sie nicht verstehen, daß sie mit allen Wesen einen gemeinsamen Grund teilen. Unwissenheit verursacht eine Vielzahl von Leiden, Verwirrungen und Nöten. Gier, Zorn, Überheblichkeit, Zweifel, Eifersucht und Angst - all diese Gefühle haben ihre Wurzeln in der Unwissenheit. Lernen wir, unseren Geist zu beruhigen und die wahre Natur der Dinge eingehend zu betrachten, so können wir ein vollkommenes Verstehen erlangen, das jedes Leiden und jede Angst auflöst und dafür Anerkennung und Liebe ermöglicht.
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Gautama hatte die Empfindung, als sei ein Gefängnis, das ihn Tausende von Lebzeiten umschlossen hatte, nun aufgebrochen. Unwissenheit war der Wärter dieses Gefängnisses gewesen.
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Siddhartha wußte, daß er den Großen Weg gefunden hatte. Sein Ziel war erreicht, und sein Herz erlebte nun vollkommenen Frieden und tiefe Ruhe. Er dachte an all die Jahre, in denen er auf der Suche gewesen war; sie waren voller Enttäuschungen und voller Mühsal gewesen.
...
Am grasbedeckten Flußufer blühten bunte Blumen in der frühen Morgensonne. Das Sonnenlicht tanzte auf den Blättern und funkelte auf dem Wasser. Siddharthas Schmerz war verschwunden. Alle Wunder des Lebens offenbarten sich. Alles erschien ungewohnt und neu. Wie wunderbar waren doch der blaue Himmel und die dahinziehenden weißen Wolken! Er hatte das Gefühl, als seien er und das Universum gerade neu erschaffen worden.
Rohatsu
Gerne hätte ich das ganze Kapitel vorgelesen. Aber die Zeit ist zu knapp. Daher möchte ich euch anregen, dass ihr diesen Text am späten Abend oder auch in der Nacht zum 08. Dezember lest. Vielleicht sitzt ihr ein oder zwei Einheiten vorher und genießt in dieser Nacht diese schöne Dichtung von Thich Naht Hanh.
Der Text liegt in gedruckter Version im Vorraum aus oder ihr könnt ihn hier in elektronischer Form lesen: Der Morgenstern ist aufgegangen.
Ich wünsche euch kurz vor dem 1. Advent eine ganz schöne Zeit.
Klaus-Peter
Klaus-Peter Wichmann
Zen-Assistenzlehrer der Glassman-Lassalle Linie
kp-wichmann@parami.ch
www.parami.ch
30. November 2024